OPTIMISTIC | DISEASE | FACILITY
BORIS LURIE: NEW YORK - BUCHENWALD
Eine Ausstellung von Naomi Tereza Salmon
Gedenkstätte Buchenwald | 99427 Weimar-Buchenwald
30. August bis 19. Oktober 2003
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PRESSE: ►Thüringer Allgemeine +++ Thüringer Landeszeitung
+++ Frankfurter Rundschau +++ Spector

EINLADUNGSKARTE
Zur Ausstellungseröffnung am 29. August 2003, 17:00 Uhr,
in der Gedenkstätte Buchenwald,
im 2. Obergeschoss des ehemaligen Kammergebäudes,
laden wir Sie und Ihre Freunde herzlich ein.
Im Rahmen der Ausstellungseröffnung stellen die Herausgeber das Buch
"Boris Lurie, Geschriebigtes/Gedichtigtes, NO!art in Buchenwald" vor,
das 2003 im Eckhart Holzboog Verlag Stuttgart, erschien.
Es sprechen: Rudij Bergmann, Kunstkritiker und Filmemacher,
und Prof. Dr. Volkhard Knigge, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald
und Mittelbau-Dora
PRESSEINFORMATION:
Der 1924 in Petersburg geborene und in Riga aufgewachsene Mitbegründer der NO!art, Boris Lurie, nimmt unter den Künstlern, die die deutschen Konzentrations- und Vernichtungslager überlebt haben, eine besondere Stellung ein. Seine international auf zunehmend breiteres Interesse stoßenden, teils provozierenden Bilder, Collagen und Objekte halten nicht nur die NS-Greuel in Erinnerung, sondern sie thematisieren zugleich deren massenkulturelle, voyeuristische Rezeption und Verwertung.
Lurie hat sich nie als ein Mitleid erheischender "Opferkünstler" verstanden, sondern als Teil eines besonderen, gesellschaftskritischen New Yorker Underground, der zugleich kosmopolitisch vernetzt ist. Wolf Vostell oder Günther Brus haben auf je eigene Weise zu seinen europäischen Freunden und Mitstreitern gehört. Dem Kunstmarkt hat sich Boris Lurie konsequent verweigert, Ausstellungen seiner Werke hat er nur selten zugelassen. So ist er zu einem Künstler für Künstler geworden und wird derzeit ebenso sehr mythisiert, wie als "Geheimtip" und radikales Gegenmittel gegen die sentimentalischen, vordergründigen, moralisierenden Formen der Erinnerungskultur neu entdeckt.
Zwischen Hitler und Stalin geboren, brechen sich in seinen Arbeiten die extremen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ungeschminkt Bahn. Dies gilt nicht zuletzt auch für seine sprachkünstlerischen Arbeiten. - Leben und Lebenswerk Boris Luries bilden ein radikales, schroffes und zugleich poetisches Gesamtkunstwerk. In New York bewohnt Lurie gleichsam seine Collagen, und wie durch einen fadenscheinigen Stoff scheint die Lagererfahrung durch alles, was ihn zivilisatorisch umgibt, hindurch. Nach einer Retrospektive seiner Arbeiten im Kunstmuseum der Gedenkstätte Buchenwald 1998/99 hat er der in Deutschland lebenden israelischen Künstlerin Naomi Tereza Salmon erlaubt, erstmals sein Leben und Lebenswerk umfassend künstlerisch zu dokumentieren. Die Ausstellung steht deshalb sowohl für einen ungewöhnlichen Vertrauensbeweis wie für gegenseitige künstlerische Wertschätzung und eine seltene Form subtiler Zusammenarbeit.
Gezeigt wird die multimediale Ausstellung aus Photos, Video, Toninstallationen, Gedichtprojektionen und computerbasierten Bildsequenzen im erst kürzlich restaurierten dritten, 750 qm umfassenden Stockwerk der ehemaligen Effektenkammer des KZ Buchenwald. Sie basiert auf zwei vorbereitenden New York-Aufenthalten Naomi Tereza Salmons und dem Gesprächsgeflecht zwischen ihr und Lurie, das sich aus ihrer Begegnung ergab.
NO!art in Buchenwald | Boris Lurie: Geschriebigtes + Gedichtigtes Im Rahmen der Ausstellung wird auch das 2003 im Eckhart Holzboog Verlag erschienene Künstlerbuch Boris Lurie, Geschriebigtes Gedichtigtes, herausgegeben von Volkhard Knigge, Eckhart Holzboog und Dietmar Kirves, vorgestellt. Es umfasst 446 Seiten und enthält zahlreiche Abbildungen.
KATALOGBUCH:
NO!art in Buchenwald:
Boris Lurie, Geschriebigtes - Gedichtigtes
Herausgegeben von
Volkhard Knigge, Weimar;
Eckhart Holzboog, Stuttgart;
und Dietmar Kirves, Berlin.
470 Seiten, 135 s/w Abbildungen,
21,5 x 26,5 cm
Eckhart Holzboog Verlag, Stuttgart 2003
ISBN 3-9807794-0-8
Zusammengestellt von Boris Lurie und Dietmar Kirves zur Ausstellung "Boris Lurie: Werke 1946-1998" in der Gedenkstätte Weimar-Buchenwald 1998/99, mit allen ausgestellten Werken, Rezensionen, Kommentaren und Buchbeiträgen von seinen Freunden Enrico Baj, Paolo Baratella, Herb Brown, Ronaldo Brunet, Günter Brus, Erro, Klaus Fabricius, Charles Gatewood, Paul Georges, Jochen Gerz, Esther Gilman, Amikam Goldman, Leon Golub, Sam Goodman, Blalla W. Hallmann, Allan Kaprow, Yayoi Kusama, Konstantin K. Kuzminsky, Jean-Jacques Lebel, Martin Levitt, Suzanne Long, Clayton Patterson, Bernard Rancillac, Francis Salles, Naomi T. Salmon, Michelle Stuart, Aldo Tambellini, Klaus Theuerkauf, Seth Tobocman, Jean Toche, Toyo Tsuchiya, Wolf Vostell, Mathilda Wolf.
KOMMENTAR VON BORIS LURIE:
Einige schnelle Worte zur Eröffnung der Ausstellung von Fotos der Naomi Tereza Salmon meiner New Yorker Wohnung und auserlesener Gedichte in Buchenwald | Naomi, bei ihrem Besuch in New York, war von meiner schrecklich unordentlichen Wohnung auserordentlich begeistert: ich dagegen bin von dem Towu-Wawohu fuerchterlich deprimiert, doch auf lange Dauer es in Ordnung halten, geht es leider nicht. Es ist eine Frage ob was wichtiger sei, die Wohnung aufzuraeumen- und danach lange wieder nicht arbeiten zu koennen!- oder mit Arbeitsversuchen so wie sie kommen, ohne Unterbrechung weitermachen. Ich ziehe die zweite Moeglichkeit vor... kann den Krawall aber trotzdem nicht leiden. Wie schoen waere es ordnungsmaessig fruchtbar fortzufahren, doch es passiert nicht... Und jetzt wurde solch ein kuenstlerisches "Environment", durch die heutige Mode an "Environmente", die heutzutage einen anderen Namen besitzen, auch etwas "kuenstlerisches", sehenswertiges! Fuer mich doch, ist es eine Plage! Es gibt auch nahestehende Personen hauptsaechlich weiblichen Geschlechtes, die sich weigern sogar der Wohnung nahezukommen.
Naomi sammelte jahrelang Ueberbleibsel von persoenlichen Objekten der Gefangenen im KaZet Buchenwald, um sie dann zu fotografieren, wie Essloeffel oder auch Zahnbuersten, die sich im Sand bisdann verborgen hielten. Jetzt wurden solche zur "Kunst", und uns zur Erweckung der Vergangenheit. Die sprechen eine Sprache, die einfache Worte nicht zum Wiederleben bringen koennen. Ob meine jetzige Wohnung in New York auch in diese Kategorie einfaellt, weiss ich nicht, doch ist es schon möglich...
Naomi hat mir fest versprochen, bei einer zukuenftigen Saubermachung mitzuhelfen, aber ob das jemals passieren wird, weiss ich nicht... alleine das zu machen, versuchte ich schon paar Mal erfolglos- und wie schon gesagt, wuerde das vielleicht zu einer erneuerten Gefangennahme, diesmal zur Untaetigkeit...
Leider war es mir unmoeglich zur Ausstellungseroeffnung nach Buchenwald zu kommen, jedoch hoffe ich es in ein paar Wochen machen zu koennen, um mir dann anzuschauen, wie Fotos meiner Unterkunft in New York auf dem geheiligten Boden des internationalen Buchenwalds da anzuschauen seien.
Ich wuensche Naomi Tereza Salmon viel Erfolg als Kompensation fuer ihre hartnaeckigen Strapazen!
Vielen Dank fuer die Moeglichkeit mich irgendwie in der geweihten Staette Buchenwald mitmachen zu duerfen, was es nicht in Kunstmuseen geben kann.
gez. Boris Lurie
New York, den 29. August 2003
AUSSTELLUNGSANSICHTEN:
 
 
 
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REZENSIONEN:
WIE EIN LEBEN IN DER EIGENEN KUNST
Ausstellung Salmon/Lurie "optimistic-disease-facility"
in der Gedenkstätte Weimar-Buchenwald
in: Thüringer Allgemeine, Weimar, 30.08.2003
Es gibt kaum Fotos, wenige Interviews und noch seltenere Filmaufnahmen von ihm, keines seiner Bilder wurde je verkauft - die Weimarer Fotografin Naomi Tereza Salmon aber ließ der New Yorker NO!art-Künstler Boris Lurie so nah an sich heran wie selten jemanden.
Weimar darf sich rühmen, 1998/99, zum Auftakt des Kulturstadtjahres, die erste Überblicksausstellung über das Werk des New Yorker NO!art-Mitbegründers Boris Lurie gezeigt zu haben. Der Künstler selbst betrachtete die Präsentation seiner in der Konfrontation von KZ-Gräuel, Pin-ups und jüdischem Selbstausdruck einmaligen Fotos und Collagen damals als Zugeständnis an einen eng mit der eigenen Biografie verbundenen Ort. Kaum 20-jährig, war der 1924 in Leningrad geborene und im deutsch-baltischen Kulturkreis Rigas aufgewachsene Lurie von den Nazis in ein Buchenwald-Außenlager bei Magdeburg deportiert worden. Nach dem Krieg wechselte er nach New York, wo er sich - ganz im Sinne von NO!art, einer Bewegung, die in den 50ern als Opposition zum Mainstream der Massenkultur und zur Kommerzialisierung der Kunst entstand - jedweder Öffentlichkeit verweigert. Seine damalige Aufgeschlossenheit, auch im Interview mit dieser Zeitung („Es gibt kein Credo", TA vom 19.12,1998), war also eine kleine Sensation. Die besonderen Umstände beförderten indes auch eine Künstlerfreundschaft, in deren Folge sich das Lebens- und Arbeitsumfeld des fast 80-Jährigen nunmehr auf besonders persönliche Weise vermittelt. Seit gestern zeigt die Gedenkstätte Buchenwald Arbeiten der Weimarer Fotografin Naomi Tereza Salmon. Diese ist Jahrgang 1965, geboren in Jerusalem. Als Künstlerin, die sich selbst immer wieder mit der KZ-Vergangenheit auseinandersetzt (etwa im Projekt „Asservate" mit Fotos von KZ-Fundstücken aus Archiven von Auschwitz, Buchenwald und Yad Vashem) und wohl auch als Angetraute des Gedenkstättendirektors Volkhard Knigge hatte sie das Vertrauen Luries gewonnen.
Zweimal besuchte sie den Alten seitdem in New York. Während er arbeitete, streifte sie mit Foto- und Videokamera durch Atelier und Wohnung, Gut ein Dutzend großformatiger Fotos offenbaren in der Ausstellung eine Lebenswelt, die in ihrer scheinbar chaotischen Verwirrtheit selbst wie eine der Collagen Luries anmutet. Besonders deutlich wird das oftmals stumme, aber Intensive Zwiegespräch zwischen beiden auf einer Aufnahme, die den Alten im Halbdunkel sitzend, selbstversunken über einem Stück Papier zeigt. Weitere 150 Fotos und ein 56-minütiges Video können per Computer abgerufen werden.
Sie wolle den oftmals Missverstandenen keineswegs entziffern, so Salmon, aber vielleicht zum besserem Verständnis beitragen und dem New Yorker so etwas von seiner Hermetik nehmen. Lurie selbst macht keinen Hehl daraus, die KZ-Vergangenheit wie auch den Tod von Mutter, Schwester und Freundin nie verwunden zu haben - auch das eine Erklärung für seine gelegentliche Schroffheit und Aggressivität. Zu den Fotos wurden Gedichte Luries über die Säulen des riesigen Ausstellungsraumes im zweiten, in den Originalzustand zurückversetzten Geschoss des ehemaligen Effektengebäudes (über der KZ-Dauerausstellung) verteilt, einige werden zudem über Kopfhörer rezitiert. hm
Wolfgang Hirsch: ANNÄHERUNGEN AN BORIS LURIE
NO!art: Ausstellung und Buchpräsentation
in der Gedenkstätte Buchenwald
in: Thüringer Landeszeitung, Weimar, vom 29.08.2003
Zum zweiten Mal nach 1998/99 widmet sich in einer heute beginnenden Ausstellung die Gedenkstätte Buchenwald einem zeitgenössischen Künstler, der, in New York lebend und arbeitend, hierzulande kaum wahrgenommen wird: Bons Lurie. Lurie, 1924 als baltischer Jude in Petersburg geboren, ist Überlebender des Holocaust; er war 1942 bis 1945 in Gettos und als Häftling in Konzentrationslagern interniert, zuletzt in Buchenwald. Gleich nach Kriegsende wanderte er in die Vereinigten Staaten aus und gründete die so genannte NO!art-Bewegung mit.
Was gemeinhin als Protest gegen die aufkeimende Popkultur verstanden wird, erhält bei Lurie zudem den bitteren Akzent. der „Jew Art", die in: Verstörung provozierender Radikalität immer wieder Bezüge zum Holocaust sucht. So nachvollziehbar dieser biografische Bezug sein mag, so schwierig, so in sich abgekapselt, hermetisch erscheint die Ästhetik seiner Bilder - Collagen zumeist - und Texte.
Eben diese Hermetik versucht die Medienkünstlerin Naomi Tereza Salmon mit ihrer Ausstellung „optimistic - disease - facility“ in der Gedenkstätte Buchenwald zu lindern, vielleicht aufzubrechen. Sie durfte Lurie in New York besuchen, fotografiertein seiner als Kunstgehäuse gestalteten Wohnung und Atelier und nähert sich aus empathischer Perspektive ebenso der Persönlichkeit wie ihren Werken. Den Raum im Obergeschoss des ehemaligen Kammerergebäudes in Buchenwald hat Salmon multimedial mit Fotografien, Video- und Hörinstallationen so gestaltet, dass intellektuelle wie sinnliche Annäherungen an das Werk Luries möglich werden.
Ihre Hörinstallationen bieten Gedichte aus dem soeben im Stuttgarter Verlag Eckhart Holzbog erschienenen, 446 Seiten starken GroßformatBand „Geschriebigtes / Gedichtigtes“, der Texte und Werk-Abbildungen Luries aus den Jahren 1947 bis 1999 versammelt. Das Buch, von Gedenkstätten-Direktor Volkhard Knigge mit einem Vorwort versehen, wird aus Anlass der Ausstellung öffentlich präsentiert.
Luries reimlose Gedichte, die immer baltikdeutsche Verfremdungen aufweisen, zeugen von tiefer assoziativmächtiger Innerlichkeit, zuweilen auch Sprachlosigkeit, wie sie schon im Zusammenhang mit Paul Celans „Todesfuge“ in den 50er Jahren diskutiert wurde. Kunst im Angesicht des Grauens. Kunst nach Auschwitz?
Einer der autoprotokollarischen Texte des Künstlers - vom 8. August 1999 - lautet: „Was ich zu sagen hab, ist hier,/ und wenn ich nichts zu sagen hab,/ dann sag ich’s laut, verflochten in die Steine// Und was ich nicht besagt, ist vielfältiger/ als die federdunsten Steingranaten/ Gib nur mir Zeit?/ Ich wird’ es später nach ver-Sagen!“
Rudij Bergmann: WOHNEN IN DER COLLAGE
Dokumentation über den NO!art-Künstler
Boris Lurie in Buchenwald
in: Frankfurter Rundschau vom 10.12.2003
Der Alte aus Manhattan kam nicht zur Vernissage. Boris Lurie, Mitbegründer und bekanntester Vertreter der „NO!art", war in seiner "Räuberhölle" in der 48. Strasse geblieben. Genau die und Luries dortiges Tun und Lassen sind hinreichende Gründe einer Foto- und Video-Dokumentation der israelischen Künstlerin Naomi Tereza Salmon in der Gedenkstätte KZ Buchenwald.
Für den 1924 in Petersburg geborenen, in Riga aufgewachsenen Boris Lurie ist der bei Weimar liegende Ort doppelt bedeutsam. Das Magdeburger Aussenlager von Buchenwald war für den Juden Lurie und seinen Vater das dritte Konzentrationslager, in das man sie verschleppt hatte. Dort sah man 1998/99 eine Übersichtsaustellung, die auch Überlebenden der deutschen Vernichtungslager zu schaffen machte.
Wer „Saturation" betrachtet, 1954-64 entstanden, versteht warum. Eine Collage, streng strukturiert wie ein Ornament. Im Zentrum ein bekanntes Foto: Buchenwald-Häftlinge - halbtote Gespenstergestalten zwischen Lebenserwartung und Gebrochensein. Eingerahmt von einer Fotoserie, die ein Pin-up-Girl in Posen zeigt, deren Versprechungen nichts zu wünschen übrig lassen. Die Freiheit ruft, das ist die zynische Parole, deren Lehrmeister das Leben selbst ist.
Der alte Mann und das Mädchen - es wird auch dieser Zwei-Generationen-Unterschied gewesen sein, der das notwendige Vertrauen schaffte, auf deren Basis die 1965 geborene Foto-Künstlerin in Luries Lebenswelten eindringen konnte. Der 69-jährige wohnt und arbeitet in einer weit verzweigten Collage aus vergilbten Fotos, angebrannten Dokumenten und neuen Notizen an der Wand; umgeben von Farbtöpfen, Kunstwerken in Ecken und Nischen, Börsencharts auf Stuhl und Tisch. Naomi Tereza Salmon liefert authentische Farbfotografien von Luries Lebensraum als Platz ständiger Erinnerung, zu denen auch die Ermordung von Mutter und Schwester gehören. Es sind Luries Lagererfahrungen, die ihn umzingeln.
Lurie ist in seinen gegen allen guten Geschmack gerichteten Bildwerken Dada und Fluxus verwandt. Sie erinnern an den Terror Nazideutschlands, denken aber auch deren massenkulturelle und voyeuristische Rezeption und Verwertung mit. Lurie ist kein Opferkünstler, sondern ein unbedingter Anhänger jener höchsten Kunst, der alle anderen Künste dienen: der Überlebenskunst. Und nicht zuletzt deswegen hat er die Schönen und die Vergasten, die Nackten und die Davongekommenen zu einer schmerzvollen Botschaft formuliert, deren Stärke darin besteht, dass man sich nicht an sie gewöhnen kann... denn: „Wo sollen wir die Aengste/ füllen/ wenn Mutterknochen so/ zersplittert sind." Nachzulesen im Künstlerbuch Geschriebigtes, Gedichtigtes in Luries baltendeutscher Muttersprache - eine Poesie auf des Messers Schneide. Gedruckt in gotischer Schriftart, die dazu zwingt, an das Sieg-Heil-Deutschland zu denken: „Die Hacken schielen in den Nacken./ Die Hacken schwellen auf dem Magen./ Die Luft schmeckt reich mit frischem Sauerstoff./.../ aus sogenannten Alten Zeiten."
Einige dieser Texte sind auf den Säulen des Ausstellungssaals projiziert und als Toninstallation hörbar. Die in Weimar lebende Naomi Tereza Salmon stellt nur acht grosse Fotos aus, hundertfünfzig weitere geben als Dia-Schau Einblicke in Luries Lebenswelten, ebenso die Videoaufnahmen, in denen sie ihn durch Manhattan begleitet.
Boris Lurie ist immer noch ein Geheimtipp. Das ist nicht zuletzt der Ästhetischen Kompromisslosigkeit seiner antikapitalistischen NO!art geschuldet, der eigentlichen Gegenspielerin der zeitgleichen Pop-Art. Von wenigen frühen Ausnahmen abgesehen, hat Lurie seine Kunst nie verkauft und würde es jetzt auch nur tun, wenn Museen und relevante Sammler einen Preis bezahlten, der im Verhältnis zu den Preisen der Pop-Art-Grössen stünde. Kein günstiges Verhandlungsangebot für jene amerikanischen Museen, die sich augenblicklich um Boris Luries Bilder bemühen.
Inga Schwede:
NAOMI TEREZA SALMON meets BORIS LURIE
in: spector cut+paste, Nr. 3, Leipzig, Juli 2004
Mit der Ausstellung optimistic - disease - facility: Boris Lurie, New York - Buchenwald, die derzeit in der Gedenkstätte Buchenwald zu sehen ist, eröffnet die Fotografin Naomi Tereza Salmon den Blick in Wohnung und Atelier des NO!art-Künstlers Boris Lurie.
„Naomi sammelte jahrelang Überbleibsel von persönlichen Objekten der Gefangenen im KaZet Buchenwald, um sie zu fotografieren, wie Esslöffel oder auch Zahnbürsten, die sich im Sand bisdann verborgen hielten. Jetzt wurden solch zu ‚Kunst’, und uns zur Erweckung der Vergagenheit. Die sprechen eine Sprache, die einfache Worte nicht zum Wiederleben bringen können. Ob meine jetzige Wohnung in New York auch in diese Kategorie einfällt, weiß ich nicht, doch ist es schon möglich ...“ (Boris Lurie: Einige schnelle Worte, 2003)
Anfang der 1990er Jahre führte Salmon ihr Projekt Asservate von Jerusalem nach Weimar: Die junge Israelin erhielt nach ihrem Fotografiestudium von der Gedenkstätte Yad Yashem den Auftrag, die dort verwahrten Objekte zu deren besseren Inventarisierung zu fotografieren. Dabei handelte es sich um Relikte, spärliche Überreste persönlicher Gegenstände, die massenhaft in den europäischen Ghettos und Konzentrationslagern zurückgeblieben waren. „Während des sachlichen Abfotografierens wurden die Dinge beredt. (...) Meine Aufgabe habe ich darin gesehen, mich während des Akts des Fotografierens unsichtbar zu machen - um der Sichtbarkeit der Dinge willen.“ (Salmon: Asservate, 1995). Was als Job begann, wurde zu einer eigenständigen künstlerischen Arbeitsweise: Scharfsinnig und feinfühlig lässt sie sich auf die Objekte ein und verhilft ihnen zur Sprache. Weitere Aufnahmen entstanden in den Archiven von Buchenwald und Auschwitz. Für Asservate holt sie die Relikte aus den Archiven an die Öffentlichkeit.
In Arbeiten wie DDR-Beutel 1:1 (1998) oder Black Box - Souvenirs aus Israel (1999) lässt sie Alltagsgegenstände von heute für sich und über die Gesellschaft sprechen, der sie entstammen. Die politische Situation in Israel beschäftigt sie; ihre gefühlten und geistigen Wurzeln sieht sie aber nicht nur in Israel sondern auch in Palästina, Deutschland, Polen, Japan und Usbekistan, was sie in ihrem Langzeitprojekt My personal Roots und anderen konzeptionellen Arbeiten teilweise ironisch dokumentiert. Mit optimistic - disease - facility übersetzt sie ihre Begegnung mit Boris Lurie in den Ausstellungsraum.
Naomi Tereza Salmon und Boris Lurie lernten sich 1998 kennen, als er zu der Retrospektive Boris Lurie: Werke 1946 - 1998 aus New York in die Gedenkstätte Buchenwald kam - zum ersten Mal nach seiner Befreiung im April 1945 aus dem Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald in Magdeburg. Salmon begleitete seinen Besuch für die Gedenkstätte mit der Kamera.
Als Boris Lurie 1945 nach New York emigrierte, lagen hinter dem 21-jährigen vier Jahre in verschiedenen Arbeits- und Konzentrationslagern. Bei seiner Deportation aus Riga 1941 wurde er Zeuge der „großen Aktion“ in Riga-Rumbula, bei der seine Mutter, Großmutter, Schwester und seine Freundin ermordet wurden.
Nach dem Krieg zeigten auflagenstarke amerikanische Magazine wie „Life“ oder „News Week“ die Dokumentarfotos, die nach der Befreiung der KZs entstanden sind. Diese gingen aber zwischen anderen News, Reklame und ersten Pin-ups im Tagesgeschäft unter. Als Reaktion auf eine Gesellschaft, die sich im Wohlstand einrichtete und auf eine Kunstproduktion, die dazu die Hintergrundbilder lieferte, entwickelte Lurie seinen radikalen Stil: Seit den späten 1950er Jahren verarbeitet er Massen von Pin-ups zu Collagen und überzieht sie teilweise mit Menstruationsblut und Exkrementen aus Wachs und Dreck. Er kontextualisiert immer wieder Pin-ups mit Bildern von KZ-Häftlingen, wie in Saturation Paintings (Buchenwald), 1959-64 und „treibt damit das Spiel der Warenwelt zynisch und aggressiv auf die Spitze.“[1]
Parallel zu seinen bildnerischen Arbeiten hat Lurie fortlaufend kritische Anmerkungen und Reflexionen zu NO!art, Kunst, Leben und Politik verfasst. Seine eigenen Texte sind nach wie vor das Beste, was zu seiner Kunst geschrieben wurde: „Das wichtigste Symbol meiner Arbeit und das Leitmotiv, welches alles in einem Wort ausdrückt ohne ästhetisch oder politisch abzudriften, ist NO.“ (Lurie, 1995).
In seinem lyrischen Werk [2] hat er eine Sprache entwickelt, die sich aus dem Baltendeutsch seiner Kindheit und amerikanisch-englischen Wortfragmenten zusammensetzt: „Ich möchte nicht, / Herr Mister Dreamsberg, / dass meiner Mutter ’hackte Knochen / den allerletzten Strip-Tease / in Zellophan geschmiedet / für Euresgleichen machen. / Wenn sie für Stalin tanzen sollte / dann wär’s OK.“ Einige Gedichte sind drastisch wie die Collagen. Andere sind leiser und subtiler. Manche eignen sich für Künstlerpostkarten. Eine wurde bereits publiziert. Was Lurie wohl davon hält, dass sein Satz „Meine Sympathie ist mit der Maus, doch ich füttere die Katze“ fortan WG-Küchen schmückt?
Andernorts provoziert und polarisiert Luries Kunst noch heute. Im Katalog zu „Mirroring Evil“ sorgt sein Saturation Paintings (Buchenwald), 1959-64, wie die gesamte Ausstellung des Jewish Museum, New York (2002), für Empörung. Zbigniew Libera mit seinen LEGO Concentration Camp Set oder Alan Schechner mit It’s the real thing - selfportrait at Buchenwald steigen ebenso zynisch, aber wesentlich „cooler“ in das Spiel ein. Lurie dagegen ist von dem Erlebten geprägt. Seine Kunst attackiert die Gesellschaft. , die die sozialen und politischen Bedingungen, die Auschwitz ermöglichten, nicht beseitigt hat. Sie ist dabei weder sentimental noch vergangenheitsbewältigend. Luries Kunst bleibt unversöhnt.[3]
Der Blick in Luries Wohnung, den Naomi Tereza Salmon mit optimistic - disease - facility eröffnet, lässt erahnen, wie konsequent Luries Kunst Ausdruck dessen ist, was er tagtäglich lebt: Zeitungsüberschriften, Pin-ups, NO!art-Schriftzüge, die Bilder seiner ermordeten Angehörigen, die er irgendwie über die KZs retten konnte, und Bilder von „Vater Stalin“ haben sich in einem jahrzehntelangen Prozess zu einer riesigen Wandcollage verdichtet.
Salmon begegnet Luries Wohnung mit künstlerischem Blick. Ihre Fotos gehen über die bloße Dokumentation hinaus. Sie tut ihrem Gegenstand damit aber keinen Gefallen. Ihre Bildausschnitte neigen dazu, das Objekt zu ästhetisieren. Die Drastik, die Luries Wohnung durchwirkt, bleibt auf der Strecke. In der Assemblage aus Möbeln, abenteuerlichen Lampenkonstruktionen, einem kleinen historischen SW-Fernseher, mechanischen Schreibmaschinen, Stapeln von „New York Times“ und Börsennachrichten, Essensresten und hundertmal benutzten Pappbechern wird die tote Ratte zum Detail, ihr Verwesungsgeruch komplett ausgeblendet. Die Fotos bleiben weit hinter dem zurück, was in dem Objekt steckt.
In der Ausstellung im 2. Obergeschoss des ehemaligen Kammergebäudes des Konzentrationslagers Buchenwald treten die Fotos von Luries New Yorker Wohnung mit dem Außenraum in Wechselbeziehung. Die Fenster, zwischen denen sie positioniert sind, geben den Blick auf das Krematorium und den Barackenbereich des ehemaligen KZs frei - heute ein weitläufiges graues Schotterfeld, auf dem sich die Grundrisse der ehemaligen Lagerbaracken dunkelgrau abheben. Buchenwald - New York - Buchenwald. Jeder Winkel von Luries Wohnung ist Ausdruck davon, das er die Konzentrationslager überlebt hat.
„Die kalte Luft / drängt sich / durch diese ungehobelt Bretter-Spalten. / Weißt du / was philosophisch-so-gesprochen / Was Kälte ist?“ und „UNBEDINGT / nach Peter Weiss’s Auschwitz-Lesen, / muss ich Ice-Cream essen. / ...“. Diese beiden Gedichte hat Lurie im August 1997 verfasst. Als Salmon ihn 2003 in New York besuchte, bat sie ihn, Gedichte für die Ausstellung auszuwählen. Salmon bringt sie in Frakturschrift an den Säulen des 750 qm großen, lang gestreckten Ausstellungsraums an. Die Fraktur und die Kante im Text, die dadurch entsteht, dass die Zeilen über je zwei Seiten der Säule laufen, erschweren es, die Gedichte zu lesen. Wer sich darauf einlässt, den lockt die Textinstallation hinein in den Raum und hinein in Luries lyrisches Werk.
Aus dem hinteren Teil des Raumes dringt Musik und Luries Stimme. „Die kalte Luft ...“, so beginnt Salmons Film, der das Kernstück der Ausstellung ist. Elemente, die der Ausstellungsbesucher bereits kennt, tauchen wieder auf: Lurie führt Salmon durch Wohnung und Atelier. Er erzählt von seinem ersten Besuch im Außenlager Magdeburg, fünfzig Jahre nach der Befreiung. Er erzählt, wie er Anfang der 1960er Jahre nach Riga reist und davon, wie er in Riga-Rumbula beginnt, die viel zu kleine Wiese abzuschreiten, unter der ein ganzes Dorf begraben liegen soll ...
Salmon gibt Lurie allen Raum zu erzählen. Die Intention der filmischen Mittel bleibt dabei stellenweise unklar. So lenken die Handkameraoptik und die Zeitrafferaufnahme einer Straßenkreuzung von der Begegnung mit Lurie ab, zu der die Choreografie der Ausstellung bis hier hin ja eingeladen hat. Ganz wesentlich zur Qualität des Films trägt der Sound von pingfm (Jan Brüggemeier, Weimar) bei. Er verwandelt die Klänge aus Luries Wohnung in ein mehrschichtiges Gewebe. Der Sound übersetzt, was mehr oder weniger unterschwellig in Luries Wohnung brodelt. Er gibt die Dringlichkeit und Unausweichlichkeit wieder, die Lurie umgibt, und überträgt sie auf den Rezipienten. Der Film schafft damit, was die Fotos sich nicht zutrauen.
„Sie haben eine Vorstellung, was Kunst sein sollte, und imitieren es dann nach, nach bester Möglichkeit. Doch Kunst wehrt sich, durch solch Chablone ausgelöst zu sein.“ Diese Zeilen von Boris Lurie sind auf einem Foto in der Ausstellung zu lesen. Naomi Tereza Salmon arbeitet ohne Schablone. Das macht die Qualität von Asservate und optimistic - disease - facility aus.
[1] Reichelt, Matthias: Boris Lurie: Werke 1946 - 1998, Kunstforum, Bd. 145, 1999. Der Artikel bietet eine umfassende gesellschaftspolitische Einordnung von Luries Kunst.
[2] Lurie, Boris: Geschriebigtes-Gedichtigtes / Boris Lurie, Knigge, Holzboog, Kirves (Hg.), Stuttgart-Bad-Canstatt, 2003.
[3] Siehe auch: Lurie: Krim: NO!art, Pin-ups, Excrement, Protest, Jew-Art, Berlin/Köln, 1988. Und: NGBK (Hg.): NO!art, Berlin 1995.

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