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Retrospektive 2007 suchen und finden im NO!art-Archiv

SHOAH UND PIN-UPS: DER NO!-ARTIST BORIS LURIE
Ein Film von
Reinhild Dettmer-Finke und Matthias Reichelt
Dokumentarfilm | defi-filmproduktion Freiburg | Color | 88 min | New York 2006
Kamera: Rainer Hoffmann | Ton und Schnitt: Mike Schlömer | Sounddesign: Martin Langenbach
Bass: Dieter Ilg | Redaktion: Sabine Rollberg | defi-filmproduktion
INFORMATION +++ FILM +++ FILMBILDER +++ VORFÜHRUNGEN
BADISCHE ZEITUNG +++ TAZ-BERLIN +++ SPIEGEL-ONLINE +++ KOMMENTARE

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INFO: Lurie war Mitbegründer der New Yorker NO!art-Bewegung, die in den späten 50ern als Gegenspielerin zum Abstrakten Expressionismus und zur aufkommenden Pop-Art entstand. Seine provokativ-extremen Arbeiten loten die Niederungen menschlicher Existenz aus. Sie verweigern sich dem Kunstmarkt. Seine Kunst und Literatur sind Ausdruck der am eigenen Leib erfahrenen Shoah: Kindheit in einer deutschsprachigen jüdischen Familie in Riga. Jugend im Rigaer Getto und in drei KZs. Seit 1946 in New York ansässig. Börsenspekulant und Kommunist. Weltbürger und Heimatloser. Mit Sehnsucht nach europäischer Kultur.

„Meine Sympathie ist mit der Maus, doch ich füttere die Katze.“
Boris Lurie, 2001

Seit über einem halben Jahrhundert sammelt Lurie Erinnerungen und Zeugnisse der Zeit. Seine Wohnung ist zu einem faszinierenden Gesamtkunstwerk geworden, in dem er lebt, aus dem er aber auch nicht entkommen kann. Seine höhlenartige „Wohncollage“ ist der Ausgangspunkt unserer filmischen Spurensuche durch sein bewegtes Leben; eine Reise durch das letzte Jahrhundert und seine großen existentiellen Fragen. Ein höchst europäischer Film!

„Hier in New York ist es anders als in den Buchen Wäldchen.“
Boris Lurie, 1955

Ein Film über Heimatverlust, Traumabewältigung und Schuld. Ein Film über einen Menschen, der sich immer wieder an seiner Geschichte abarbeiten muss.

„Du glaubst, mein Freund, mein Menschenfresserfreund,
das, was gewesen, ist nicht mehr?
Was ist geschehen und gewesen, das verschwindet nie.“
Boris Lurie, 1985

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FILM

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FILMBILDER:

Boris Lurie als JugendlicherLolitaBoris Lurie in seinem Atelier
Boris Lurie in seinem AtelierBoris Lurie und Charly Rehwinkel in WoodstockWerk von Boris Lurie
Boris Lurie mit seinem SchäferhundBoris Lurie mit dem NO-BagBoris Lurie bei der Aufnahme
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VORFÜHRUNGSTERMINE 2007:

11.02.2007 | Apollo I im Friedrichsbau, Kaiser-Joseph-Str. 268-70, Freiburg
21.02.2007 | Hunter College, Room 1527, 695 Park Ave at 68th Str., New York
22.02.2007 | Makor /Steinhardt Center, 35 West 67th Street, New York
23.02.2007 | Anthology Film Archives, 32 Second Ave at Second Str., New York
25.02.2007 | Friedrichsbau-Lichtspiele, Kaiser-Joseph-Str. 268-70, Freiburg
04.03.2007 | Friedrichsbau-Lichtspiele, Kaiser-Joseph-Str. 268-70, Freiburg
05.04.2007| Eiszeit-Kino, Berlin, Zeughofstr. 20, Berlin, bis 18.04.
17.04.2007 | Kino 3001, Schanzenstrasse 75 (im Hof), Hamburg
22.04.2007 | Museum Ludwig, Bischofsgartenstr. 1, Köln
16.05.2007 | Black Box Kino, Schulstr. 4, Düsseldorf
08.06.2007 | arte TV
12.06.2007 | Kunstakademie Karlsruhe
31.10.2007 | Akademie der Künste, Akademiestr. 4, München
01.02.2008 | Brotfabrik Kino, Caligariplatz 1, Berlin, bis 05.08.
21.02.2008 | Kommunales Kino, Urachstr. 40, Freiburg, bis 04.03.
02.04.2008 | Kommunales Kino, Offenburg
06.04.2008 | Kunsthalle Faust, Bettfedernfabrik 3, Hannover
20.10.2008 | Black Box Kino, Schulstr. 4, Düsseldorf
04.12.2008 | Bibliothek der MHV, Rosenheimer Str. 5, München
23.04.2009 | artneulandgalerie, Schumannstr. 18, Berlin

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REZENSIONEN:

DAS VERBOT, SCHÖN ZU MALEN
Freiburger Premiere für "Shoah und Pin-Ups"
Reinhild Dettmer-Finkes Porträt von Boris Lurie
Rezension von Bettina Schulte

in: Badische Zeitung vom Samstag, 17. Februar 2007

NO!art: Eine Kunst, die Nein sagt. Und das mit einem Ausrufezeichen. Im Land der Ja-Sager und grenzenlosen Optimisten konnte sich eine solche Haltung kaum durchsetzen. Doch Boris Lurie, NO!-Artist, blieb sich treu. Diente sich in den 60ern nicht den New Yorker Galerien und dem Kunstmarkt an, der vom abstrakten Expressionismus und der Pop-Art bestimmt wurde. "Es ist verboten, schön zu malen": Das hat Boris Lurie nicht nur von Goya gelernt. Lurie hat die Konzentrationslager Stutthof und Buchenwald überlebt. Seine Großmutter, Mutter und eine Schwester wurden 1941 in Rumbula bei Riga zusammen mit 21 000 anderen Juden erschossen.

"Shoah und Pin-Ups": Ein provozierender Titel für einen sehr ungewöhnlichen Dokumentarfilm, den die Freiburger Filmemacherin Reinhild Dettmer-Finke in Zusammenarbeit mit dem Publizisten Matthias Reichelt über Boris Lurie gedreht und jetzt mit Unterstützung der Katholischen Akademie im Freiburger Friedrichsbau erstmals öffentlich gezeigt hat. Zweimal waren sie in New York, haben den Künstler in seinem phantastisch-chaotischen Atelier besucht, durch die Straßen Manhattans und nach Woodstock begleitet, wo sein listiger Freund Rocco Amento Äxte in Baumstümpfe schlägt und stecken lässt. Action Sculpture nennt er das. Auch ein Beitrag zu NO!art.

Dem Film merkt man die langsame Annäherung an einen nicht eben zugänglichen Menschen an. Behutsam tastet sich die Kamera am Anfang durch die abenteuerliche Behausung in der Lower Eastside, in der Boris Lurie sein Leben gesammelt hat: Fotos aus seiner russischen Kindheit - die er aus dem Ghetto und durch seine Lagerzeit geschmuggelt hat -, Briefe, vergilbte Zeitungsausschnitte, Bücher, Manuskripte, Bilder: Und dann spinnt sich aus dieser unvorstellbaren Fülle von Lebensspuren allmählich der rote Faden eines abenteuerlichen Lebens, spinnt sich an der eindrucksvollen Stimme Luries entlang, der raucht und raucht und raucht und dabei stückweise seine Biographie preisgibt.

Ein Sieger mit den Siegern: Eine großbürgerliche Kindheit. Der Vater ein vermögender Kaufmann und ein von sich selbst überzeugter Mensch. Einer, der nicht so schnell untergeht: Nach dem Krieg war er einer der Ersten, der wieder Geschäfte machte - mit Thyssen. Auch der Sohn entspricht nicht dem Typus des KZ-Opfers. Man sieht ihn auf der Seite der Amerikaner. Ein Sieger mit den Siegern. Ein gut aussehender junger Mann, der 1946 nach New York geht, das freie Leben der 50er- und 60er-Jahre genießt und sich für Mädchen interessiert. Die Freundin dieser Jahre, die sich in ihrer noblen Pariser Wohnung mit Wärme und Respekt an ihn erinnert, ist ein begehrtes Model. Die Pin-Ups wachsen über seine Wände - bis das Verdrängte wiederkehrt und in riesigen wüsten Collagen mit den zur Lust dargebotenen Frauenkörpern eine brisante, aggressive Verbindung eingeht: Macht, Folter und Sexualität - Boris Lurie verweist auch auf Abu Ghoreib.

Das war Anti-Pop, den keiner haben wollte. Lurie bezahlte den Preis dafür. Er war mittellos, heiratete nie, führte kein bürgerliches Leben. Dichtete Sätze wie: "Wie wollen wir die Angst füllen / wenn Mutterknochen so zersplittert sind". Dettmer-Finke setzt sich diesem Künstler aus und mit ihm auseinander. Schnörkellose Nahaufnahmen. Das runde Gesicht mit den ausgeprägten Tränensäcken. Die fast herrisch kraftvolle Stimme, der man immerzu zuhören möchte. Lurie bestimmt das Geschehen, hält die Fäden in der Hand. Das macht diesen Film, den der Freiburger Bassist Dieter Ilg mit einem bohrenden, aber sich nicht aufdrängenden Motiv begleitet, spannend. Nie weiß man, was passieren wird. Plötzlich rückt Lurie damit heraus, dass er nach dem Tod seines Vaters ein Geschäftsmann geworden sei. Mit beträchtlichem Erfolg an der Börse spekulierte. Im Keller lagert derweil seine Kunst in unübersichtlichen Regalen. Wer soll da jemals aufräumen?

Nein, ein Opfer ist dieser KZ-Überlebende nicht. Wer Nein sagen kann, ist ein freier Mensch. Inzwischen hat Boris Lurie eine Herzoperation hinter sich - die ihn, wie man im zweiten Teil des Films sehen kann, geschwächt hat - und mehrere Schlaganfälle. Sein Atelier musste er verlassen. Der Film, den Dettmer-Finke und Reichelt nächste Woche in drei großen New Yorker Kinos zeigen - der auch hier unbedingt in die Kinos gehört - , hat ihm gefallen. Das kann man verstehen. Ein solches Porträt gibt es selten. Das letzte Wort gehört selbstverständlich ihm: Die Frauen, sagt er, hätten gefunden, er sei ein schöner Mann. Dabei lächelt er. Zum ersten Mal.

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ES IST VERBOTEN, SCHÖN ZU MALEN
von Andreas Resch
in: taz-berlin, 5. April 2007

Nackte Frauen und Leichen im Bahnwaggon: Für den Künstler Boris Lurie haben Sex und Gewalt viel miteinander zu tun. Der intime Dokumentarfilm "Shoah und Pin-ups" widmet sich dem Mitbegründer der "NO!art"-Bewegung

Eigentlich hätte er gern gemalt wie die französischen Impressionisten - Seerosen, Mohnblumen, Strohhüte. Doch nachdem Mutter, Großmutter und Schwester im KZ von den Nazis ermordet worden und er und der Vater nur knapp mit dem Leben davongekommen waren, sei ihm das nicht mehr möglich gewesen. Gleich zu Beginn erzählt Boris Lurie diese seine Geschichte, die dazu führte, dass er ein Hauptakteur der "NO!art" wurde.

Die "NO!art" kam Ende der Fünfzigerjahre in Amerika als Kunstbewegung auf, deren Ziel es war, den etablierten Markt systematisch zu unterwandern. Beharrlich verweigern sich die Künstler der "NO!art" dem Kulturbetrieb. Ihre Werke, die sich an der Schnittstelle von individuellem Ausdruck und politischer Agitation aufstellen, sind subjektiv und aggressiv.

Boris Lurie, 1924 in Leningrad geboren und im lettischen Riga aufgewachsen, macht als einer der "NO!art"-Gründer eine Bilderserie, in der er Magazin-Fotos von Pin-up-Girls mit Aufnahmen von KZ-Häftlingen collagiert - zu grotesken Darstellungen pervertierter Lust und Gewalt. Da entblößt sich eine Frau vor einem Zugwaggon voller Leichen, da klebt Lurie einen Lolita-Kopf neben die Fotografie des Schädels eines toten KZ-Häftlings. Auf diese Serie bezieht sich der Dokumentarfilm "Shoah und Pin-ups", den die Freiburgerin Reinhild Dettmer-Finke jetzt über Bo:ris Lurie gedreht hat. Vorsichtig nähert sich die Filmemacherin diesem eigenbrötlerischen Mann, zeigt ihn zunächst bei alltäglichen Verrichtungen, etwa im Taxi oder beim Lebensmittel-Einkaufen in New York, wo Boris Lurie seit seiner Emigration im Jahr 1946 lebt. Zumeist jedoch sieht man ihn in seinem chaotischen Atelier an der Lower Eastside, in dem sich überall auf dem Boden, an den Wänden und in den Regalen die Bilder stapeln. Dort verbringt er den Großteil seiner Zeit mit Malen und dem Schreiben von Gedichten. "Der taube Goya schreit in mein Ohr - flüstert: Es ist verboten, schön zu malen!", heißt es in einem von ihnen.

Im Verlauf des Films erfährt man von Boris Luries bürgerlicher Jugend in Lettland, alte Schwarz-Weiß-Fotos zeigen ihn als melancholischen jungen Mann im Anzug. Lurie erzählt, wie er einige Zeit nach seiner Ankunft in New York von verdrängten Erinnerungen an die Zeit im Konzentrationslager überwältigt wurde und begann, diese künstlerisch zu verarbeiten. Den Anfang machten 1947 Bilder dekonstruierter Frauenkörper, die "Dismembered Women".

Dass die "NO!art" nie kommerziell erfolgreich wurde, ist gewissermaßen Teil ihres Programms und stört Boris Lurie nicht weiter - er verdient seinen Lebensunterhalt mittlerweile mit Börsen-Spekulationen. Dafür macht der Film deutlich, wie schade es ist, dass seine Bilder aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden sind. Denn Aufnahmen wie die aus Abu Ghraib, in denen dieselbe Gemengelage aus Sex und Gewalt wie die herrscht, mit der sich Lurie seit Jahrzehnten kritisch auseinandersetzt, zeigen: Seine Kunst ist auch heute noch notwendig.

"Shoah und Pin-ups: Der NO!-Artist Boris Lurie". Regie: Reinhild Dettmer-Finke in Zusammenarbeit mit Matthias Reichelt. D 2006, 88 Min. Eiszeit-Kino

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TV-DOKU "SHOA UND PIN-UPS"
Die Nackten und die Toten
Rezension von Gabriele Meierding
SPIEGEL ONLINE - 08. Juni 2007
Quelle: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,487431,00.html

Boris Lurie bringt Sex und Gewalt in verstörender Konsequenz zusammen. In seinen Arbeiten konfrontiert der KZ-Überlebende Sexgöttinnen mit Holocaust-Motiven. Arte wagt sich mit "Shoah und Pin-ups" heute Abend an sein Porträt.

Als der KZ-Überlebende Boris Lurie nach der Befreiung als junger Mann nach New York kam, gab es für ihn nur eine Art, seine Traumata und Obsessionen zu verarbeiten. Mit einem Tabubruch: Lurie collagierte Pin-ups und KZ-Motive zusammen. In seiner "Railroad Collage" von 1959 entblößt ein Pin-up-Girl das Hinterteil inmitten vergaster Körper auf einem Güterwagen.

"SHOA AND PIN-UPS": ÄSTHETIK DES GRAUENS.

Shoah und Pin-Ups, wie geht das zusammen? In dem Dokumentarfilm von Reinhild Dettmer-Finke, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Publizisten Matthias Reichelt, beantwortet sich diese Frage von selbst. Erstens aus der Biografie eines Künstlers, die den eher scheinheilig geführten Diskurs um einen Tabubruch -"Darf man das?" - von vornherein obsolet macht.

Zweitens wird in Luries Collagen die mediale Verwertung von amerikanischen Sexbomben und deutscher Vernichtungsindustrie einfach nur schonungsloser deutlich als in US-Hochglanzmagazinen. In seinem von Erinnerungsfragmenten zugewucherten Atelier hortet er wie einen Schatz auch die alte "Life"-Ausgabe vom 7. Mai 1945. Mit Bildern aus den von den Amerikanern befreiten Konzentrationslagern, eingebettet in Modefotos und Werbung.

Erschütternde Zeugenschaft.

"Hier in New York ist es anders als in den Buchen-Wäldchen", konstatierte Boris Lurie 1955 in einem seiner Kurzgedichte. 1924 in Leningrad geboren, wuchs er in Riga auf, die Jahre 1941 bis 1945 verbrachte er in Konzentrationslagern. Das auf arte ausgestrahlte Porträt des inzwischen 83 Jahre alten Künstlers untermauert gerade in seiner unaufdringlichen Art den Anspruch des Überlebenden: Nicht seine Kunst sei pervers, sondern die Gesellschaft, die er damit kommentiere. - Luries Ästhetik setzt auf Erschütterung. Zu extrem für den amerikanischen Kunstbetrieb, gegen den sich die von ihm mit initiierte NO!art auch in Opposition zur Popart positionierte. "Das war zu direkt und zu dreckig," erklärt Matthias Reichelt, der 1995 in Zusammenarbeit mit der Berliner Neuen Gesellschaft für bildende Kunst eine Boris-Lurie-Retrospektive realisierte, "fast in einer Vorwegnahme der Punk-Ästhetik." Einmal im Jahr hat Reichelt Lurie in New York besucht und irgendwann damit begonnen, ihre Gespräche über Faschismus, seine Zeit in Konzentrationslagern und die Verarbeitung in der Kunst mit einer Videokamera aufzuzeichnen: "Weil es ein Verbrechen wäre, das nicht zu dokumentieren. Denn irgendwann sind diese Zeitzeugen ausgestorben."

Zurückhaltend näher kommen.

So ist "Shoah und Pin-Ups" vor allem eine der letzten Gelegenheiten, einem überlebenden Zeitzeugen zu begegnen. Mit allen Skrupeln einer durch Holocaust-Studien sensibilisierten Filmemacherin hat sich Reinhild Dettmer-Finke seinem Kosmos genähert. "Als deutsche Regisseurin und Autorin kam ich mir zunächst wie ein Eindringling in die Welt eines Holocaust-Überlebenden vor. Weil in der Art, wie er seinen höhlenartigen Wohnraum gestaltet, ja auch Muster eines KZ rekonstruiert sind: die Balken, der alte Gasofen, die Dunkelheit. Das hat man bei vielen Betroffenen festgestellt."

Von dieser Zurückhaltung profitiert der für die Fernsehausstrahlung auf eine Stunde gekürzte Dokumentarfilm, Die Regie schafft es, in der Enge des zugewachsenen Ateliers in der New Yorker East Side Distanz zu wahren.

An einer Wand, die nicht von Soft- und Hardcore-Pin-ups okkupiert ist, hängt ein alter Stadtplan von Riga. Mit der Taschenlampe weist Boris Lurie darauf den Weg in das Waldstück Rumbula. Im Winter 1941 wurden hier 26.000 Juden ermordet, darunter seine Mutter, seine Großmutter und seine Schwester.

Immer wieder gerät man hier an die traumatischen Fixpunkte einer Künstlerbiografie. "Hattest du eine Freundin, als du im Konzentrationslager warst?" will Luries alter NO!art-Kumpel, der Bildhauer Rocco Armento, wissen. Nicht im Konzentrationslager, da herrschte Geschlechtertrennung, erklärt Boris Lurie. Jahrelang war Boris Lurie umzingelt von den Pin-up-Mädchen an seinen Wänden und besessen von seinen Phantasien. Bis er sie von den Wänden riss, auf die Leinwand brachte und mit Farbe übergossen hat. Es war ein Akt der Befreiung. Lurie schildert ihn im Rhythmus eines Poems.

Luries Art, sich in Bildern auszudrücken, ist schockierend, obwohl er sich einer gängigen Mediensprache bedient. Darauf verweist als Memento mori ein Foto von nackten Frauen, aufgenommen von einem KZ-Wärter. "Die Folterer haben einen sexuellen Genuss davon", sagt der NO!artist und meint auch die menschenverachtenden Fotos aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghuraib. "Um das zu kommentieren", sagt er dann lakonisch, "braucht man keinen Boris Lurie. Das ging um die Welt."

"Shoah und Pin-ups - Der NO!-Artist Boris Lurie" , Arte, 8. Juni, 22.15 Uhr
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KOMMENTARE:

Magnus Hengge:
... eigen-artig: Eine Doku über den NO!art-Mitbegründer Boris Lurie
Publiziert in:
Berlin-ist, Berichte, Kritiken und Beiträge zur Berliner Kulturlandschsft, am 06.04.2007 #18:38:23
http://www.berlin-ist.de/


VIDEODOKUMENTATION DER DISKUSSION | 9:13 min

Eigentlich kamen wir um "Der letzte König von Schottland" zu sehen, doch die im Internet veröffentlichte Anfangszeit stimmte mal wieder nicht mit der tatsächlich viel späteren überein. Statt dessen fing gerade eine Dokumentation Namens "Shoah und Pin-Ups" über den NO!art-Künstler Boris Lurie an. "NO!art" kam mir irgendwie bekannt vor: Damals an der HdK kursierten so kleine No-Art-Aufkleber, mit denen irgendjemand seinen Protest gegen ausgestellte Werke zum Ausdruck brachte und ich hörte von der NewYorker Anti-Pop-Art-Avantgarde Gruppe gleichen Namens, von der ich aber nicht viel wusste. Der Name "Boris Lurie" sagte mir nichts. ... Egal, wenn man schon mal da ist ...

Beim Eintritt in den Kinosaal, hatte der Film gerade begonnen und (für mich) überraschender Weise war der Raum fast ganz gefüllt. Die Dokumentation wurde auf einfachem DV-Video Material gedreht, sehr low-tech-mäßig, ohne zusätzliches Licht und mit nicht immer ganz perfektem Ton, was aber besonders durch die winzigen, verwinkelten Räumlichkeiten des Künstlers bedingt war, in denen fast der ganze Film aufgezeichnet wurde.

Boris Lurie durchlebte als Jugendlicher Ghetto und KZ, verlor dabei aber den ganzen weiblichen Teil der Familie (Mutter, Schwester, Oma) und ging gleich nach der Befreiung 1945 nach New York. Die Erlebnisse in den Lagern prägten seine Kunst von Anfang an, doch er nahm nie die vermutbare Opferrolle eines Überlebenden ein. Seine Werke sind bewusst unästhetisch, unschön, grotesk und er brachte Anfang der 50er Jahre Dinge zusammen, mit denen er sämtliche Tabus brach. Er collagierte Aufnahmen aus den deutschen KZs, verhungerte Menschen, Leichenberge, verzweifelte Blicke mit Soft-Porno Bildchen, die er aus Magazinen ausschnitt. Bis heute bringt er die Extreme unserer "perversen" Gesellschaft zusammen und spannt einen für ihn offensichtlichen Bogen von der Shoah bis zum Irakkrieg. Seine Kunst ist eben das deutliche NO!-Sagen: NO! zum normierten Wertekanon, der es verbietet über vieles zu sprechen. NO! zu den Gesetzen des Kunstmarktes. NO! zur erwarteten Opfermentalität.

Diese Haltung konnte und kann er sich "leisten", weil er nach dem Tod seines Vaters, der ebenfalls die Nazizeit überlebte und anschließend in Deutschland erfolgreiche Geschäfte mit Thyssen und anderen machte, dachte, er müsse nun selbst wirtschaftlich sein Leben übernehmen. Er tat dies bemerkenswert geschickt durch Investment in Immobilien und Wertpapiere, die ihm einen Wohlstand einbrachten, den er nicht mal im Ansatz in einen Lebensstil umsetzte. Der Film zeigt eindrücklich, wie Lurie trotz finanziell gesichertem Hintergrund äußerlich völlig heruntergekommen haust. Sein Atelier und seine Wohnung sind geradezu erbärmliche Rumpelkammern, die zum Bersten mit halb kaputten Möbeln und vor sich hin rottenden Materialien gefüllt sind. Er kauft regelmäßig in einem kleinen Geschäft osteuropäische Wurstwaren und packt sie in einen überdimensionierten und überquellenden Kühlschrank, bei dem man hofft, die Türen würden sich nie wieder öffnen.

Allein seine Kunst ist ihm wichtig. So wichtig, dass er in den letzten Jahren sogar Werke wieder zurückkaufte, die über die Jahrzehnten bei anderen Menschen gelandet sind. Im Kontrast zu dieser Archivierungstätigkeit steht dann aber die fahrlässige Einlagerung der Bilder in einem feuchten Keller, in dem früher oder später alles Stockflecken bekommen muss. Diese Verderblichkeit seiner Arbeit scheint Lurie aber durchaus bewusst voranzutreiben. Vermutlich ist es seine letzte Geste der NO!art-Haltung, denn er ist inzwischen gesundheitlich stark angeschlagen, nicht mehr fähig, sich um seine Kunst zu kümmern.

Boris Lurie ist ein widersprüchlicher Mann und er betrieb immer eine widersprüchliche Kunst, die erst in den letzten Jahren wieder entdeckt wird. Heute (für ihn zu spät) gibt es ein Interesse an seinem Lebenswerk, was man im Film (eine Museumsleiterin mühte sich um eine Ausstellung mit ihm), am Film (sonst wäre er nicht gedreht worden) und am Publikum (fast die gesamte Kreuzberger Kunstszene war anwesend) sehen konnte.

Nach dem Film gab es eine angeregte Diskussion mit den MacherInnen der Dokumentation: Reinhild Dettmer-Finke (Buch, Regie), Matthias Reichelt (Idee), Rainer Hoffmann (Bildgestaltung), Mike Schlömer (Schnitt, Ton). Das Video zeigt daraus ein paar Ausschnitte.

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NO!art headquarters | 20.04.2007 #19:06 | Ein Film ueber einen alten Mann, der in seiner Krankheit im hohen Alter zu einer Dokumentation ueberredet wurde. Es fehlen jegliche Informationen ueber die Mitbegruender der NO!art-Bewegung Sam Goodman und Stanley Fisher, durch die und mit denen er erst als NO!art-Kuenstler bekannt wurde. Ebenso fehlen Informationen über seine ehemalige Freundin und Galeristin Gertrude Stein, die ihn gefoerdert hat, den Galerist Janos Gat, der die letzten Ausstellungen von ihm in New York organisierte, und seine vielen Freunde, die er zur NO!art-Bewegung motivierte. Es fehlt auch jegliche Information ueber die NO!art-Seite, die mit seiner finanziellen Unterstuetzung seit dem Jahre 2000 im Internet betrieben wird. Siehe www.no-art.info. Dort gibt es bereits informative Filme über Boris Lurie als Videostream zu sehen, wie der von Amikam Goldman "NO!art Man" und den von Naomi Tereza Salmon "optimistic - disease- facility". Es gibt keinen Hinweis über sein poetisches Werk Geschriebigtes-Gedichtigtes, das in einem umfangreichen Buch anlaesslich seiner Ausstellung in der Gedenkstätte Weimar-Buchenwald veröffentlicht wurde. Im kuenstlerischen Werk von Boris Lurie gibt es nur vereinzelte Werke, die das Thema Shoah und Pinup beruehren und keinerlei bildhafte Beziehung zum Irakkrieg. Sein Werk ist vielmehr geprägt von dem Motto, dass "NO!art die strategische Kreuzung ist, auf der sich kuenstlerische Produktion und gesellschaftlich-kulturelle Aktion begegnen". Es erweist sich hier mal wieder, dass Filmer, die Zugang zu oeffentlichen Veranstaltungsplaetzen haben, Dokumentationen lancieren können, die nur bruchstueckhaft ein Bild von einer Person zeichnen, das nicht der Wirklichkeit entspricht. Warscheinlich handelt es sich hier um Trittbrettfahrer auf der Holocaust-Schiene. Was soll das eigentlich heissen: Shoah und Pinup? Laesst sich solch ein Thema so billig abhandeln? Leider kann Boris Lurie zu diesem Film nichts mehr sagen, da er schon des laengeren nicht mehr kommunizieren kann und sich in einem Pflegeheim befindet.

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Wolfgang Roelen | 21.06.2007 #17:20 | Der Kommentar ist korrekt. Alles wirklich Brisante und Relevante für die Politik und Kunst von heute kommt in dem Film nicht vor. Deshalb lesen: Boris Lurie, Seymour Krim: NO!art, Köln/Berlin 1988

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